Viel komplexer als gedacht und wichtig nicht nur als Friedensbündnis
Über die EU und die Arbeit der in Brüssel tätigen Menschen werden oft Witze gemacht, die Effizienz ihrer Tätigkeit und das gesamte Konstrukt mitunter in Frage gestellt. Dabei wissen wohl die wenigsten genau Bescheid darüber, welche Gremien die EU hat, was ihre Aufgaben sind und vor allem, was wäre, wenn es die EU plötzlich nicht mehr gäbe. Über all das informierte den Jahrgang 11 Dr. Jan-Marco Müller am vergangenen Donnerstag. Dass der Vortrag des EU-Beamten auf einen Vormittag mit wetterbedingtem Distanzunterricht fiel, schmälerte das Interesse der Schülerinnen und Schüler in keiner Weise. Die Veranstaltung wurde von Steinmühlenlehrerin Dr. Claudia Röder begleitet.
Ein Quiz zum Einstieg machte relativ schnell klar, wie komplex das Wissen rund um die EU sein kann: „Irland, Island, Schweiz – wer gehört nicht zum Schengen-Raum?“ Da musste man schon überlegen, genau wie bei der Frage „Wer gehört nicht zur UEFA: Kasachstan, Monaco oder Israel“. Auch wollte der Gast wissen, wessen Antrag auf EU-Mitgliedschaft schon einmal abgelehnt wurde: Türkei, Marokko oder Bulgarien. Auch warf er die Frage nach dem Unterschied der folgenden Gremien in den Raum: Euro-Rat, Europarat, Europäischer Rat und Rat der Europäischen Union. – Spätestens dann mussten die meisten kapitulieren.
Europawahl: Ein Geschenk der Demokratie
Dass Europa gar nicht so einfach ist, das erkannte bereits der kürzlich verstorbene Henry Kissinger: „Who do I call if I want to call Europe?“ lautete vor etlichen Jahren seine Frage, die in der Politik schon oft zitiert wurde. Bei 27 Mitgliedsstaaten, einer halben Milliarde Einwohnern, 24 Amtssprachen und drei Alphabeten eine Frage, die nicht mal eben zu beantworten war. „In Vielfalt geeint“ umschrieb der Steinmühlengast aus Brüssel die Situation für die Mitgliedsländer, die alle zusammen einen ganz wichtigen Vorteil haben: Es herrscht Frieden für sie, seit 1945.
Warum Staaten der EU beitreten wollen, hat auch sonst mehrere handfeste Gründe. Freien Personenverkehr und freien Austausch von Waren, Rechtsstaatlichkeit, gegenseitige Solidarität und Subsidiarität. Der Gast erläuterte noch andere Aufgaben in dem 25.000 Mitarbeiter:innen umfassenden Verwaltungsapparat. Aber er rührte auch die Werbetrommel für die Europawahl am 9. Juni, „ein Geschenk der Demokratie“.
Eine „Kompromißmaschine“
„Es stehen 232 Parteien zur Wahl“, erzählte Müller, „aber anders als bei anderen Wahlen gibt es keine 5-Prozent-Klausel“. Das bedeute, dass Stimmen entgegen den sonstigen Gewohnheiten nicht verlorengehen, wenn sie für kleine oder Kleinstparteien abgegeben werden. Unter dem Dach des Europäischen Parlaments würden die Parteien mit ähnlichem Programm in der Zusammenarbeit Annäherung finden. Ansonsten fänden sich darunter die Regierungen von 27 Nationen – „eine Kompromißmaschine“.
Zum Vortrag des Referenten rissen die Fragen der Schülerinnen und Schüler nicht ab. Sie reichten von der Frage, ob und wie sich der Rechtsruck in Europa bemerkbar mache, über die Frage, warum der Beitritt der Ukraine erstrebenswert sei bis hin zu Fragen nach Gesetzen für einen klimaneutralen Kontinent. Auch wollte ein Schüler des Jahrgangs 11 wissen, ob in der EU über eine Europa-Armee nachdegacht werde. Gefragt wurde aber auch, wie bei ihm, dem Referenten, die Satire des Martin Sonneborn ankomme. Mit der Diplomatie eines EU-Beamten ausgerüstet, antwortete Dr. Jan-Marco Müller entsprechend: „Man muss auch solche Spaßvögel im Parlament haben, und privat ist das ja nett. Politik kann man da weniger machen, wir müssen ja zu Lösungen kommen“.
Lösungen seien auch das Ziel mit Blick auf alle Weltmächte: „Da müssen wir schauen, dass wir im Konzert der Welt eine Stimme haben. Es ist ein weiter Weg, auf dem wir aber gut aufgestellt sind“.
„Wir brauchen alle Profile aus allen Bereichen“
Dr. Jan-Marco Müller, in Cappel aufgewachsen, studierte Geographie in Marburg, arbeitete im Wissenschaftsmanagement und gelangte über den wissenschaftlichen Dienst zur EU, wo er zunächst in der wissenschaftlichen Politikberatung tätig war. Derzeit arbeitet der als Wissenschaftsdiplomat unter der Fragestellung, wie die Wissenschaft genutzt werden kann, um diplomatische Beziehungen zu verbessern: „Wissenschaftler reden, wenn Diplomaten nicht mehr reden“. Müller weiter: „Ich versuche, Politiker für Wissenschaft zu begeistern und entsprechende Fakten zu transportieren“. Dabei gehe es auch, wenn auch nicht nur, um den Klimawandel und den Technologiewettlauf mit China.
Der Referent, der ein äußerst interessiertes Publikum hatte, ermutigte die Schülerinnen und Schüler, ruhig einmal an einen beruflichen Schritt in Richtung EU zu denken: „Wir brauchen alle Profile, aus allen Bereichen“.
Schulleiter Björn Gemmer hatte den Referenten eingangs begrüßt und sich selbst etwas Zeit genommen, um den interessanten Ausführungen zu folgen. Es dürfte weder im Vortragsraum noch an den Bildschirmen jemanden gegeben haben, der an diesem Vormittag sein Wissen nicht erweitert hatte.