Ein farbenfroher Regenbogen leuchtete am Donnerstagabend über dem Marburger Stadtteil Cappel und über der Steinmühle. Ganz so, als wollte er noch einmal speziell zur Lesung von Klaus Dieter Spangenberg ins Forum einladen. Der gebürtige Marburger und Dipl.-Sozialarbeiter stellte dort sein Buch vor mit dem Titel „Wo ist Fritz“. Darin schildert er das Schicksal seines Großonkels als Beispiel für die Opfer von Militärjustiz und die Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich.
Zu einer Lesung im engeren Sinne kam es für die Besucherinnen und Besucher aller Altersklassen nicht. Dafür hörten sie die warmherzige Schilderung der Familiengeschichte mit Schwerpunkt auf das Leben von Großonkel Fritz Spangenberg.
Noch immer etwas Besonderes
Als der Autor Klaus Dieter Spangenberg, Jahrgang 1964, im Zeitraum 1982/83 selbst sein Coming-out hatte und sich innerhalb der Familie offenbarte, erfuhr er: „Du bist nicht der Erste“. In der Marburger Bahnhofstraße 11 hatte es schon einmal jemanden gegeben, seinen Großonkel Fritz Spangenberg. Er hatte als Homosexueller zur Zeit des Dritten Reiches die besondere Härte des Paragraphen 175 Strafgesetzbuch zu spüren bekommen – mit allen unmenschlichen Folgen.
Auch wenn Jahrzehnte später immer mehr Rechte für gleichgeschlechtlich liebende Menschen erstritten wurden, der Paragraph 175 StGB später gelockert und 1994 endlich aufgehoben wurde – es blieb nach Schilderungen des Vortragenden immer etwas Besonderes. In seinem eigenen Elternhaus gab es die Sprachregelung, nicht darüber zu reden; schließlich war die Familie bekannt, hatte in Marburg ein etabliertes Café – dazu passte laut seiner Familie kein Getuschel. Klaus Dieter Spangenberg, übrigens Steinmühlen-Abiturient, der als schwuler Mann „keine Zukunft in der Kleinstadt“ sah, verließ Marburg in Richtung Berlin. Die Stadt ließ er zurück – die Gedanken an seinen Großonkel Fritz begleiteten ihn.
Recherche bis 2022
„Kann denn Liebe Sünde sein?“ fragte Zarah Leander in ihrem Lied von der gleichnamigen Schallplatte, die der Gast bei seinem Vortrag abspielte. Laut eigener Schilderung begann Spangenberg etliche Jahre später, nämlich 2009, mit der Recherche nach dem Schicksal seines Großonkels, die bis 2022 andauerte. Akten inklusive Strafregister, Angaben über die Zeit in der Strafkompanie, ein Fotoalbum seines Großvaters und Briefe des Großonkels an die eigene Schwester dokumentierten die Hürden, Widerstände, Degradierungen und Strafen, die Fritz Spangenberg, Jahrgang 1914, hatte erfahren müssen. Die Fotos zeigten den Pharmaziestudenten und späteren Apotheker erst als Hilfskoch, häufig beim Herumalbern auch in Frauenkleidern, aber 1935 auch in SA-Uniform, die gewisse Vergünstigungen versprach. Im selben Jahr war der § 175 StGB noch verschärft worden.
An die Öffentlichkeit ging Fritz Spangenberg häufig zu dritt, mit seiner Schwester Elfriede und deren Verlobtem Hans Hahn. Die drei Pharmazeuten unternahmen viel, ließen sich fotografieren. – Für Klaus Dieter Spangenberg Dokumente einer Zeit, in der es seinem Großonkel zumindest vordergründig gut zu gehen schien.
Vollstreckungen mitansehen
Die militärische Grundausbildung absolvierte Fritz Spangenberg in Kassel. In Fritz Spangenbergs Strafbuch fand sich irgendwann der Vorwurf versuchter Verführung Minderjähriger – einer Altersklasse, der man damals bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres angehörte. Die Beweise waren dürftig. Spangenberg gehörte dennoch zur Zielgruppe der „Abteilung zur Bekämpfung der Homosexualität“.
Als ausgebildeter Sanitäter konnte er sich zwar dem Schicksal in KZ oder Zuchthaus entziehen; er kam aber 1943 in das Wehrmachtsgefängnis Torgau an der Elbe. Dort war es unter anderem vorgeschrieben, bei der Vollstreckung von Todesurteilen zusehen zu müssen.
Und noch mehr. Als Offizier wurde er degradiert, er verlor seinen Dienstrang, die Eignung als Sanitäter wurde ihm aberkannt, die Zulassung als Apotheker entzogen. Weil er sich im Wehrmachtsgefängnis sehr gut führte, erhielt er am 16. Februar 1943, nach neun Monaten, sein Entlassungszeugnis, das immerhin sein gutes Betragen und Verhalten jedermann gegenüber dokumentierte.
Das Ende: Strafkompanie an der Ostfront
Dennoch: Im Dezember desselben Jahres musste er sich erneut von seiner Familie verabschieden, um in die so genannte „Strafkompanie“ an der Ostfront einzurücken. Diese entfaltete ihre Aktivitäten in Russland und Weissrussland. Seine Familienangehörigen hatten anschließend immer gehofft, er werde in Gefangenschaft kommen. Stattdessen entnahm sie und später Klaus Dieter Spangenberg einer Kommandeurs-Nachricht aus den Archiven, dass Fritz Spangenberg mit seiner Einheit 299 bei einem Nachtangriff in einem Sumpf- und Waldgebiet verschollen war.
Fritz Spangenbergs sterbliche Überreste wurden nie gefunden, 1969 wurde er für tot erklärt. Eine Gedenkstätte gibt es nicht. Sein Name findet sich einzig auf einer Gedenktafel für die Opfer des 1. und 2. Weltkrieges.
Gesellschaftliche Ächtung, Verlust der Approbation, Scham und schließlich der Tod in der Strafkompanie an der Ostfront sind die traurige und bewegende Geschichte von Fritz. Das Buch ist der Versuch einer Rekonstruktion seines tragischen Schicksals anhand von Dokumenten aus der Wehrmachtsakte und dem Familienarchiv. Fritz zählt zu den über 50.000 Opfern der NS-Justiz und den rund 7.000 Verurteilten innerhalb der Wehrmacht.
Klaus Dieter Spangenberg: Wo ist Fritz? – Opfer des § 175 im Dritten Reich. Ein Beispiel für Militärjustiz und die Verfolgung Homosexueller in der Wehrmacht. Das Buch hat 116 Seiten und ist erschienen im Büchner Verlag, Marburg 2024, als Taschenbuch oder E-Book (ISBN: 978-3-96317-349-3).