Wie wir als Eltern lernten, das Internat zu lieben
Eine Internats-Mutter erzählt
Unser Sohn hat es geschafft. Dabei sah es zwischendurch nicht so aus. Denn Nicklas liebt seine Freiheit. Immer schon und immer noch, aber in der Pubertät galt das besonders. Zwischendurch hatten wir wirklich Sorge um ihn. Das hat uns als Familie sehr belastet. Aber jetzt hat er es, sein Abitur. Wir sind so glücklich. Und auch sehr stolz auf ihn. Deshalb möchte ich unsere Geschichte erzählen. Vielleicht kann sie anderen Familien helfen und Mut machen. Denn hätten wir gewusst, wie gut das Internat unserem Sohn tut, wären wir diesen Weg schon früher gegangen.
Wie alle Eltern, wollten und wollen wir immer nur das Beste für Nicklas. Er ist unser einziges Kind, da fokussiert man sich möglicherweise besonders darauf. Heute denke ich: Vielleicht war es auch manchmal zu viel. Es war uns immer wichtig, eine harmonische Beziehung miteinander zu haben. Die begann zu leiden, als er zunehmend Zeit mit seiner Clique verbrachte und dadurch die Schule vernachlässigte. Es war ein schleichender Prozess und wir versuchten, mit ihm darüber zu sprechen. Aber er machte dicht, wir kamen nicht mehr richtig an ihn ran. Je mehr er sich zurückzog, desto mehr bohrten wir nach, klagten an, forderten ein. Die Wochenenden, die mal so schön gewesen waren, wurden echt anstrengend.
Er spürte, dass er so nicht weitermachen wollte
Das ging eine ganze Weile so. Eigentlich haben wir zu lange abgewartet, aus heutiger Sicht. Aber damals dachten wir, es werde sich schon geben. Doch irgendwann war dann klar: So funktioniert es nicht. Das Abitur und ein Jahr Auslandaufenthalt als Austauschschüler in die USA waren in weite Ferne gerückt. Nicklas spürte es selbst. Und gleichzeitig fiel es ihm extrem schwer, zu Hause zu bleiben und zu lernen, sich aus seinen Freundschaften zu lösen. Die Macht der Gewohnheit und einer Gruppe ist schon sehr stark, das kennen wir ja alle.
Eines Tages eröffnete er uns, er wolle aufs Internat. Das sei, so habe er für sich erkannt, die einzige Möglichkeit, sein Leben von Grund auf zu ändern. Mein Mann und ich hatten tatsächlich auch schon darüber nachgedacht. Aber auch erfahren, dass es keinen Sinn mache, sein Kind dazu zu überreden. Deshalb waren wir froh, dass er selbst den Vorschlag machte. Wir haben uns dann sehr schnell gekümmert, um ihm noch im laufenden Schulhalbjahr den Neustart zu ermöglichen. Wir hatten das Gefühl, es sei gut, keine Zeit zu verlieren…
Für jeden gibt es das richtige Internat. Aber welches passt zu uns?
Wir informierten uns über verschiedenste Wege, waren beeindruckt und auch ein bisschen überrascht und überfordert von der Fülle von Angeboten an Internaten in Deutschland. Da ist, würde ich sagen, für jedes Kind etwas dabei. Allerdings hat man dadurch eben auch die Qual der Wahl. Wir überlegten also, was zu uns und für Nicklas passen würde. Am besten, so dachten wir damals, sei ein kleines Internat, mit kleinen Gruppen, wo Nicklas nicht „wegtauchen“ kann. Wir sind eine kleine Familie und so wäre, war unser Gedanke, eine Kleingruppe für ihn vertraut und gut, auch um ihm das Einhalten von Regeln zu erleichtern.
Tatsächlich fanden wir dann auch schnell ein Internat, das Nicklas gefiel, wir führten Gespräche und er wechselte während des Schuljahrs noch dort hin.
Nicklas lebte sich ein, fühlte sich wohl. Alles war gut. Jedenfalls fast.
Jetzt war alles gut. Oder zumindest dachten wir das für eine Weile. Dann aber traf die Nachricht ein, dass Niklas das Internat verlassen müsse. Er habe sich nicht an die Regeln gehalten. Zwar war ihm zu Beginn seines Aufenthalts sehr deutlich mitgeteilt worden, er müsse gehen, wenn ein Regelbruch erfolgte. Ich denke, er hatte das nicht wirklich ernst genommen. Bis dahin war er ja immer irgendwie mit seinem Verhalten durchgekommen.
Aber diesmal nicht. Diesmal musste er die Konsequenzen tragen. Und das Internat verlassen.
Für ihn war das eine harte Nuss. Er war, so fühlte es sich für ihn an, gescheitert. Ein Regelbrecher. Wer sollte ihm jetzt noch wieder eine Chance geben wollen?
Er wollte. Und er wusste auch: Er muss.
Auch für uns war es keine einfache Zeit. Wir hatten so viel Hoffnung auf diesen Weg gesetzt. Trotzdem wollten wir nicht aufgeben. Wir glaubten weiterhin fest daran, dass er es schaffen könnte, wenn er das richtige Umfeld fände. Eins, in dem es Regeln gibt, die einzuhalten er liebevoll angeleitet wird, das aber gleichzeitig auch Raum für Individualität lässt, nicht zu eng und klein für ihn ist. Denn, so wurde uns jetzt klar, kleine Gruppen und enge Kontrolle kann auch (unbewusste) Revolte erzeugen, zur inneren Auflehnung führen. Jedenfalls war es wohl bei ihm so.
Nicklas gab uns zu verstehen, dass er es unbedingt noch einmal probieren wollte. Und er wusste auch, er muss es – für sich. Ein Scheitern wollte er nicht akzeptieren.
Wir gingen also unsere Liste von Internaten noch einmal durch. Ein gutes pädagogisches Konzept war uns wichtig, vielfältige Sportmöglichkeiten, G9, nicht zu weit von uns weg, damit Nicklas an den freien Wochenenden heimkommen konnte.
Spontan rief ich bei der Steinmühle an, einem hessischen Internat. Und war froh, mein Anliegen und unsere Situation in persönlichen Gesprächen schildern zu dürfen, mich ausführlich austauschen zu können. So konnte ich auch darlegen, in welcher Situation sich Nicklas befand und dass er, auch wenn es sich nach außen anders darstellte, wirklich willens war, es zu schaffen, sich einzufügen, das Abitur machen.
„Wir geben jedem Schüler eine Chance. Die muss er nutzen und sich beweisen.“
Diesen Satz von Anke Muszynski, der Internatsleiterin, werde ich nie vergessen. Wie war ich erleichtert! Die Gespräche haben uns wieder Kraft gegeben und Mut gemacht.
Auch der persönliche Kontakt verlief dann sehr positiv. Intuitiv hatten wir schon eine gepackte Tasche mitgenommen und so blieb Nicklas gleich im Internat. Manchmal muss man eben schnell entscheiden und seinem Gefühl trauen.
Die ersten Wochen waren trotzdem für ihn nicht einfach. Wieder musste er sich neu einleben, alles und alle kennen lernen, dabei auch noch das „Scheitern“ und den Abschied von den Freunden verdauen. Das Internat und auch wir haben ihm dafür Zeit gelassen. Ich denke, das war gut und wichtig, Geduld zu haben. Er hat eine sehr starke Persönlichkeit, ein großes Freiheitsbedürfnis. Da ist es hilfreich, wenn sich der betreuende Pädagoge auch Zeit nehmen kann, um zu verstehen: Wie hole ich ihn ab, wie kriege ich ihn? Was mache ich, damit er zu mir kommt und mir vertraut? Und er sich was sagen lässt, ohne das Gefühl zu haben, er MUSS?
Als sich das Schuljahr langsam dem Ende entgegen neigte, merkten wir, wie es bergauf ging, wie Nicklas sich langsam öffnete, Fuß fasste, neue Freunde fand. Immer häufiger konnte (oder wohl besser gesagt: wollte) er nicht ans Telefon gehen, weil Sport anstand oder gemeinsames Kochen oder ein Gruppenabend.
Wir wussten trotzdem immer, wie es ihm geht. Denn Schule wie Internat hielten uns auf dem Laufenden, gaben Rückmeldung, wenn etwas schwierig schien, erläuterten uns ihr Konzept und ihr Vorgehen. „Wir geben jedem Schüler, jeder Schülerin eine Chance“, so hatte die Internatsleiterin ja im Telefonat gesagt. Und das war dann auch wirklich so. Nicklas spürte, dass man ihn aufnahm, wie er ist, mit all seinen Ecken und Kanten und seiner Vergangenheit. Er hat sich von seinem Hausleiter und dem gesamten pädagogischen Team gesehen und wertgeschätzt gefühlt, das hat ihn sehr bestärkt.
Sie haben ihm Raum gelassen und gleichzeitig auf das Einhalten bestimmter Regeln geachtet. So schufen sie ein gutes Gleichgewicht für ihn – genügend Vorgaben und trotzdem noch Freiheit. Zu Hause wäre das schwieriger gewesen. Ich denke, Jugendliche sind auch offener, wenn solche Impulse von außen kommen. Und wenn sie rübergebracht werden als Chance und nicht, wie von Eltern häufig, als Pflicht.
„Nehmen Sie sich als Eltern raus, wir kümmern uns um Schule und Lernen.“
Ich habe schon beschrieben, wie anstrengend die Wochenenden zum Schluss gewesen waren, als Nicklas noch zu Hause lebte. Ständig hatte es Auseinandersetzungen gegeben wegen der Schule. Ich habe darunter sehr gelitten und auch für Nicklas war es bestimmt nicht schön.
Und jetzt, jetzt durften wir plötzlich als Familie die Wochenenden wieder genießen! Kein Streit mehr, keine Ausreden, keine Diskussion. Wir konnten einfach Spaß haben zusammen, miteinander wieder lachen, gemeinsam entspannt Zeit verbringen. So ein Geschenk!
Ehrlicherweise muss ich sagen: Es fiel mir anfangs nicht leicht, ich musste mich erst daran gewöhnen loszulassen. Aber die Internatsleiterin hat uns immer wieder sehr ans Herz gelegt, nicht mehr bei ihm nachzufragen, wie es mit Lernen und Schule klappt. Um diese Themen würden sie sich kümmern. Und sie machten ihren Job gut. „Passt“, so der kurze Kommentar von Nicklas. Da wussten wir: Hier wird er es schaffen. Ich habe mich entspannt und gedacht: Das kriegt er jetzt schon hin.
Wir lernten auch das Lernbüro schätzen. Zunächst konnte ich mir gar nichts darunter vorstellen. Dachte, die sitzen da eben und machen ihre Aufgaben. Aber es ist viel umfassender. Sie haben dort Ansprechpartner, können sich jederzeit Unterstützung holen, auch Nachhilfe bekommen, können ohne Ablenkung lernen, sich intensiv einem Thema widmen. Sie werden dort auch angehalten, bestimmte Lernblöcke zu absolvieren. Zu Hause, da wäre die Versuchung, sich anderen Dingen zuzuwenden, viel größer gewesen. Im Internat ist das Mitmachen hingegen nahezu zwangsläufig gegeben, weil alle beschäftigt sind. Auch ein Schüler, der nicht so fleißig ist, sieht: Die anderen lernen, da sollte ich das wohl ebenfalls tun. So war es auch bei Nicklas. Und so hat er sein Abitur geschafft.
Die Steinmühle war der Ort, an dem mein Sohn am meisten für die Zukunft mitgenommen hat
Der Internatsbesuch ist als Möglichkeit, Kinder und Jugendliche bestmöglich auf das weitere Leben vorzubereiten, in Deutschland noch wenig im Fokus. Wir sind inzwischen der Meinung, das sollte sich ändern. Eigentlich müsste schon ganz früh darüber gesprochen und Eltern diese Option vorgestellt werden, auch in den Schulen. Nicht nur oder erst, wenn es mit dem Lernen oder zu Hause schwierig wird. Sondern grundsätzlich. Das Internat sollte als etwas gesehen werden, das man seinem Kind gönnt oder als Alternative anbietet.
Nicklas jedenfalls hat aus seiner Zeit an der Steinmühle so, so viel mitgenommen für seine Zukunft. Mehr, als wir ihm hätten geben können in unserer kleinen Familie. Denn Leben im Internat bringt Vielfalt mit sich, innerhalb der Wohngruppen wie auch bei den Rollenbildern durch Lehrkräfte und Pädagoginnen und Pädagogen. Er hat viele unterschiedliche Menschen und Persönlichkeiten kennen gelernt, mit ganz unterschiedlichen familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen. In der Gemeinschaft musste er sich darin üben, mit anderen auszukommen, und Verantwortung zu übernehmen für andere und auch für sich selbst. Sie haben dabei sehr viel voneinander und für das Leben gelernt, soziale Kompetenz erworben, ist mein Eindruck. Und das schweißt auch zusammen, Sie verbringen ja in gewisser Weise Krisenzeiten miteinander, wie die Pubertät und die intensive Lernzeit vor dem Abitur, das bleibt extrem in Erinnerung. Da entstehen Freundschaften fürs Leben.
Das alles macht ein Internat aus. Ich bin überzeugt, dass es für jedes Kind ein Internat gibt, das zu ihm passt und an dem es seinen Schulabschluss erfolgreich absolvieren kann. Wie unser Nicklas. Deshalb hat er nun sein Abitur. Dafür sind wir der Steinmühle unendlich dankbar. Und wir sind sehr, sehr stolz auf unseren Sohn.