Ein Gespräch mit dem Internatsschüler Conny über individuelle Freiheit und liebevolle Kontrolle, über Eigenverantwortung, Miteinander und Toleranz.

Von Dr. Karin Uphoff

Manchmal sind es die kleinen Geschichten, die einen staunen lassen. Anke hat mir eine solche erzählt. Anke Muszynski ist Internatsleiterin. Mit viel Herz, einer großen Liebe zu ihren Schülerinnen und Schülern und auch mit der nötigen Strenge, wenn es denn mal sein muss. Bei Conny musste das mal sein, erfahre ich später von ihm selbst. Er habe in der Pubertät das ein oder andere ausprobiert. „Aber die Menschen hier, die passen auf dich auf.“ Hier: damit ist die Steinmühle in Marburg gemeint. Die Betreuer:innen wohnen mit auf dem Gelände, jedes Haus hat ein festes pädagogisches Team, das rund um die Uhr vor Ort ist.

Anke also leitet das Internat der Steinmühle. Außerdem unterrichtet sie stundenweise an der angeschlossenen Schule – einem privaten Gymnasium mit staatlicher Anerkennung. Dort hat Conny gerade sein Abitur absolviert, erzählt mir Anke.

Connys Leistungskurse: Mathe und Physik. Seine Abschlussnote: 1,1. Und das, wo er doch überhaupt erst einmal Deutsch lernen musste, als er zur 6. Klasse in die Steinmühle kam, die 10. Klasse übersprang, um früher abschließen zu können, und von sich selbst sagt, ein durchschnittlich begabter Mensch zu sein.

Ich verabrede mich mit ihm via Videochat, weil ich mehr dazu erfahren möchte – wie er das geschafft, was ihm geholfen hat. Ich bin selbst Mutter von sechs Kindern und weiß, wie viel mögliche Ablenkungen und Irrwege die Jugend bereithalten kann…

Ob ich ihn duzen dürfe für das Interview, frage ich ihn. „Klar!“, nickt er. Und beginnt zu erzählen.

Conny heißt eigentlich Geonhyeok Noh, aber „das kann hier in Deutschland niemand aussprechen, deshalb nennen mich alle Conny.“ Er ist 12 Jahre, als er mit seiner Familie von Süd-Korea nach Deutschland kommt. Sich frei entfalten zu können, das sei ihm wichtig gewesen, sagt er. Entfaltung, Individualität, Eigenverantwortung: Diese Worte werden noch häufiger fallen in unserem Gespräch.

Conny besucht zunächst ein kleineres Internat, wechselt dann zur Steinmühle, weil auch seine Schwester schon dort ist und es ihr gut gefällt. „Das Konzept ‚Fördern und Fordern‘ hat uns sehr angesprochen.“ Die Steinmühle gebe den Schüler:innen die Chance, sich individuell zu entwickeln, in der eigenen Geschwindigkeit. Der Umgang in der Schule und im Internat sei locker und tolerant, ohne Drill oder aufgesetzten Druck, höchstens mit „liebevoller Kontrolle“, sagt Conny. Soziale Kompetenzen und Eigenverantwortung, so nehme ich wahr, sind offensichtlich genauso wichtig wie schulische Leistungen. „Ja, Lernen und Leben haben gleichermaßen Platz.“

Sein erstes Erlebnis? „Kaum hatte ich meine Koffer ausgepackt, musste ich schon wieder los, zur Klassenfahrt.“ Er habe erst Sorge gehabt, dass das alles zu viel sei. „Aber es war genau richtig. Ich habe bei der Fahrt meine Mitschüler:innen schnell näher kennen gelernt und Freundschaften geschlossen.“ Diese Freundschaften halten viele Jahre, geben ihm das Gefühl von Zugehörigkeit. „An der Steinmühle herrscht eine Atmosphäre von Freundlichkeit und Wohlwollen, auch von Neugier und Unvoreingenommenheit gegenüber Neuem. Das hat mir sehr geholfen, mich einzuleben und willkommen zu fühlen.“

Er findet durch Fußball weitere Freunde und eine gute Möglichkeit, die Sprachkenntnisse zu erweitern. Die 10. Klasse überspringt er, weil er das „verlorene“ Jahr (wegen des Wechsels an die Steinmühle wiederholte er die 6. Klasse) wieder ausgleichen will. Heißt für ihn: sich noch einmal neu einleben. Das sei aber kein Problem gewesen, sagt er, auch wegen seiner Freundin. Sie ist bereits in dieser Jahrgangsstufe und über sie kennt Conny schon den einen oder die andere. Außerdem habe die Steinmühle eine so genannte Profiloberstufe. Das heißt, man wählt einen thematischen Schwerpunkt (Deutsch, Kunst, PoWi, Geschichte, Mathematik, Sport, lese ich später nach) und hat dann die meisten Unterrichtsstunden weiterhin in einer Art Klassenverband, gemeinsam mit den anderen, die auch in diesem Leistungsprofil sind. „Da findet man schnell zusammen, denn man hat ja ähnliche Interessen.“

Bei Conny ist es zunächst PoWi. Doch nach der Einführungsstufe und intensiver Reflexion in den Sommerferien beschließt er, ins Matheprofil zu wechseln. In den Gesprächen mit seinen Eltern sei ihm klargeworden, dass er Medizin studieren möchte. Und da seien Naturwissenschaften natürlich sinnvoll. „Und Physik fand ich, seitdem ich ein Buch von Stephen Hawking gelesen hatte, auch sehr spannend, hatte sogar mal überlegt, Physiker zu werden.“ Es sei trotzdem hart gewesen, noch ein drittes Mal neu zu starten, wieder andere Kurse und Mitschüler:innen und noch dazu sehr begabte. Sechs der Schüler:innen, die den besten Abschluss machen in seinem Abijahr, sind im Matheprofil – dementsprechend hoch ist das Niveau im Unterricht.

Aber Conny ist fleißig. Nein: „Sehr, sehr fleißig“, sagt er von sich. „Und sehr zielstrebig.“ Und deshalb sei es ihm eben auch gelungen, das Abitur so gut abzuschließen. „Ich brauche einen bestimmten Schnitt für mein Studium, wusste aber erst nach dem Mündlichen sicher, dass ich ihn erreicht habe.“ Als ihm klar wird, dass er die 1,1 geschafft hat, jubelt er. Es sei ein unglaubliches Gefühl gewesen von Freude und Befriedigung – der Lohn letztendlich für intensives und konstantes Lernen.

Was ihm geholfen habe, hake ich noch einmal nach. Conny überlegt. „Zum einen meine Freundin. Wir haben viel zusammen gearbeitet.“ Zum anderen herrsche an der Steinmühle eine gute Lernatmosphäre. „Die Oberstufler wohnen alle in einem Haus, da zieht man sich gegenseitig mit. Wäre ich nicht im Internat gewesen – ich hätte mich wahrscheinlich viel mehr ablenken lassen.“ Aber hier, auf der Steinmühle, lebt und lernt man viel miteinander. Gesprächspartner:innen, um Themen der nächsten Klausur zu diskutieren oder sich zu schwierigen Fragen auszutauschen, „sind nur eine Zimmertür entfernt“. Die Möglichkeit, gemeinsam „zu pauken“, ist ständig gegeben, man muss sich dafür nicht extra verabreden.

„In der Mittelstufe habe ich nur die vorgegebene Zeit im Lernbüro verbracht. In der 11. und 12. Klasse war ich dann aber sehr froh, dieses Angebot intensiv nutzen zu können.“ Das Lernbüro: auch so eine besondere Einrichtung der Steinmühle. Während des Nachmittags und am Wochenende können hier die Internats-Schüler:innen unter Aufsicht Hausaufgaben erledigen, Fragen stellen, Präsentationen üben, Nachhilfe bekommen. „Es war sehr hilfreich zu wissen, dass dort immer jemand Zeit für mich hat und mich unterstützt.“ In der Abizeit lernt Conny dann aber eher allein oder in Kleingruppen, nutzt das Lernbüro nicht mehr so viel. „Wir hatten ja schon geübt, eigenverantwortlich zu arbeiten. Das kam mir da sehr zugute.“ Fürs mündliche Abi nimmt Conny die Hilfe doch noch einmal in Anspruch. Und schließt die Präsentationsprüfung mit 15 Punkten ab.

Als Ausgleich zum Lernen unternehmen Conny und die anderen Schüler:innen viel, auch das gemeinsam. Die Innenstadt von Marburg ist mit dem Rad in 20 Minuten gemütlich erreichbar. Sie gehen ins Kino oder essen, lassen an der Lahn die Seele baumeln und plaudern, besuchen Freunde. „Alles, was Jugendliche eben gerne so machen.“ Conny grinst. „Und dabei habe ich auch mal über die Stränge geschlagen. Aber nur einmal. Wie gesagt: Die passen hier auf dich auf.“

Das Abitur zu haben und einen so guten Schnitt, das sei ein großartiges Gefühl, bestätigt er. Er fühle sich richtig frei und unbeschwert. In den nächsten Wochen steht nun eine Deutschlandreise an, die er gemeinsam mit seiner Freundin unternehmen wird. Vielleicht geht es auch hoch nach Dänemark. „Und wenn noch etwas Zeit bleibt, würde ich gerne zu meiner Familie nach Südkorea und mit ihnen zusammen den Abschluss feiern.“

Ich möchte noch wissen, was er wohl sagen werde, wenn er in zehn Jahren zum Herbstfest der Steinmühle kommt. Dies ist das alljährliche große Event von Schule und Internat und der Tag, an dem sich traditionell die Alumni der Steinmühle treffen. „Ich glaube, ich werde sagen: Dies hier waren der Ort und die Zeit, die mir die Möglichkeit gegeben haben, zu dem zu werden, was und wer ich heute bin. Wo ich mich als Jugendlicher ausprobieren konnte, Grenzen gezeigt bekam, mich entfalten konnte, Eigenverantwortung übernahm. Und wo ich durch die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der Schüler:innen Toleranz und Kooperation lernte.“ Wem er das Internat empfehlen würde? „Allen, die eine eigenständige Jugend und gleichzeitig auch Unterstützung und liebevolle Kontrolle in entscheidenden Momenten haben möchten.“

An die gute Zeit, die er auf der Steinmühle verbracht hat, daran werde er sich noch lange erinnern, schließt er seinen Bericht. Ganz sicher werde er auch den großzügigen Campus vermissen mit seinen Tennisplätzen und Grünanlagen, dem Reitstall und Beach-Volleyballplatz, dem Bootshaus und Grillplatz direkt an der Lahn. „Denn hier war viele Jahre mein Zuhause, mein ‚Garten‘, der alles bot.“